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Italian Chapel auf Orkney – das Wunder von Camp 60

Den italienischen Kriegsgefangenen muss Orkney wie die Hölle vorgekommen sein. Also bauten sie sich ein Stück Himmel: Heute bewegt die Italian Chapel jeden Besucher.

Italian Chapel Orkney
Die Italian Chapel auf Orkney

Domenico Chiocchettis Heimat waren die Dolomiten. Gewaltige Berge, saftige Almwiesen, blauer Himmel, kunstvolle Architektur – damit war er aufgewachsen. Dieser Ort hier aber hatte nichts von all dem. Domenico hätte sich kaum einen anderen Platz ausmalen können, der kälter, nasser und öder wäre als die Orkneys. Diese Inseln irgendwo im Nichts zwischen Nordsee und Atlantik.

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Er würde die restlichen Jahre des Zweiten Weltkriegs hier verbringen und – was er bei seiner Ankunft noch nicht wusste – am Ende würde er am längsten von allen hier bleiben. Freiwillig!

Die Engländer hatten ihn nach Lamb Holm geschleppt, eine winzige Orkney-Insel. Er und über tausend andere italienische Kameraden, die man in Afrika gefangengenommen hatte, sollten hier im Camp 60 arbeiten, um riesige Barrieren aus Fels im Meer zu errichten. Bollwerke gegen deutsche U-Boote; „Churchill Barriers“ nannten die Briten das. Dafür mussten sie hier Steine klopfen, riesige Drahtkörbe mit Geröll füllen und diese zum Meer schaffen, um sie schließlich darin zu versenken.

Domenico war Maler. Ein Künstler.

In all der Zeit, bei all der harten Arbeit, der Kälte, der Dunkelheit, spendete Domenico nur sein kleines Heiligenbildchen Trost, das die Madonna mit einem Olivenzweig zeigte. Seine Mutter hatte es ihm gegeben, als er in den Krieg gezogen war. An ihrer Stelle sollte sich die heilige Mutter nun um ihren Sohn kümmern. Und das tat sie – jedenfalls glaubte Domenico das.

Immer wieder zog er das Bild aus seiner Tasche und betrachtete es. Die Madonna hielt ihm einen Olivenzweig entgegen, geradezu fordernd. Als wolle sie ihm einen Auftrag geben. Domenico begriff: Dieses Lager war für ihn die Hölle. Doch niemand sagte, dass das so bleiben müsse.

Es begann zunächst unauffällig. Die Italiener hatten in ihrem Camp 60 Wege angelegt, damit sie nicht immer durch Schlamm waten mussten. Nach und nach pflanzten Domenico und seine Kameraden an diesen Wegen Blumen an. Bunte Farbtupfer in der Landschaft, kleine Sprosse der Hoffnung. Doch das genügte Domenico nicht. Er wollte etwas Größeres schaffen. Etwas Heiliges.

Statue aus Stacheldraht und Zement

Und so formte er aus zusammengesammelten Stacheldraht und Zement eine Statue des Heiligen Georg, der jetzt über die Baracken der Gefangenen wachte. Doch es fehlte immer noch eine Kirche, ein Ort der Versammlung und der Andacht.

Als im September 1943 ein italienischer Pfarrer in das Lager kam, wusste Domenico, dass es nicht mehr lange dauern würde, ehe sie ihre eigene Kapelle haben würden – eine echte „Italian Chapel“. Und er würde ihr Baumeister werden.

Wie die Italian Chapel entstand

Domenico war Künstler, sicher. Er war ein Visionär, er verfügte über eine antreibende Kraft. Doch für seine Kirche brauchte er mehr, nämlich gestandene Handwerker. Seine Statue hatte den anderen gezeigt, was er alleine vollbringen konnte. Was würden sie dann erst alle zusammen erschaffen?

Mit Domenico Buttapasta fand er einen, der mit Zement zaubern konnte. Giuseppe Palumbi war Schmied und brachte Metalle in die schönsten Formen. Giovanni Pennisi war ebenfalls Maler, ging Domenico Chiocchetti zur Hand und sollte noch ein eigenes Meisterwerk an der Kirche vollbringen. Viele weitere Kameraden packten schließlich mit an – sei es nur dadurch, dass sie durch Mehrarbeit an den Churchill Barriers Domenico und seinen Kirchenbauern den Rücken frei hielten.

Lüftl-Kunst am Altar

Sogar die Lagerleitung unterstützte Domenicos Einsatz und spendete zwei Nissenhütten, die man miteinander verband. Das so entstandene Tonnengewölbe bildete das Kirchenschiff. Doch die materielle Hilfe der Engländer reichte nicht aus für Domenicos Vorstellungen einer echten italienischen Kapelle. So wurde vieles „organisert“: Holz zog man aus den abgewrackten Schiffen der Curchill Barriers. Stoffe bestellte man bei einer Firma, die durch gemeinsam erspartes Zigarettengeld bezahlt wurde. Blechbüchsen wurden nach dem Leeressen in der Kapelle als Lichter verwendet.

Monate arbeiteten Domenico und seine Männer an ihrer Italian Chapel. Sie verkleideten das hässliche Wellblech der Hütten und verzierten die Wände mit Bildern von Heiligen oder gaben ihr die Illusion von Backsteinen. Der Chorbereich wurde durch ein kunstvolles Eisengestänge abgetrennt, für das der Schmied vier Monate Arbeit benötigte.

Von außen sah die Hütte jedoch immer noch jämmerlich aus. Und so nahm sich Buttapasta die Fassade vor. Aus Zement schuf er die perfekte Illusion einer Kirche mit kleinem Glockenturm. Und schließlich war es Pennisi, der über dem Eingang das Relief von Jesus herausarbeitete.

Für den Altar aber hatte Domenico Chiocchetti sich etwas ganz besonderes vorgenommen: Seine Madonna mit dem Ölzweig, die ihn all die Monate getröstet hatte, die ihn inspiriert hatte, sie sollte das Zentrum der Kirche werden. Das Bildnis war schon reichlich abgegriffen, als er sich schließlich daran machte, nach dieser Vorlage eine Madonna in leuchtenden Farben an die Wand zu zaubern.

Jesus-Relief über dem Eingang

Nach acht Monaten Bauzeit war ihre Italian Chapel nahezu fertig. Mit einem Gottesdienst weihten die Gefangenen ihr Werk ein, es sollten nur wenige weitere Messen folgen. Denn mittlerweile war es Sommer 1944 – zwischen den Engländern und Italienern gab es längst einen Waffenstillstand. Und so dauerte es nicht mehr lange, ehe die Gefangenen verlegt wurden – weg von den Orkneys. Eine Erlösung, sollte man meinen.

Doch nicht Domenico. Er war hier noch nicht fertig, sein Werk noch nicht getan. Und so blieb er als letzter noch freiwillig auf der Insel zurück, um die Italian Chapel zu vollenden. Erst als das geschehen war, verließ Domenico die Orkneys in Richtung Heimat. Und ließ seine Statue, seine Kirche, seine Madonna hinter sich.

Für immer?

Wie die Italian Chapel überlebte

Hier wäre die Geschichte der Italian Chapel fast zu Ende gewesen. Der Krieg war vorüber; Arbeiter rückten an, um das Camp 60 dem Boden gleich zu machen. Nichts mehr sollte an das Lager erinnern. Doch vor der kleinen Kapelle, dem St. Georg und seinem Drachen machten die Arbeiter ehrfürchtig halt. Entgegen der Anweisungen schonten sie das Werk der Italiener.

Stattdessen setzte der langsame Verfall ein. Die Kirche war aus Resten gebaut worden, sie war einfach nicht für die Ewigkeit erdacht. Doch Domenico und seine Leute hatten so viel Zeit, Liebe und Geduld in das Werk gesteckt, es war so wunderschön, dass es die Herzen der Orkadier ergriff. Es wurde ihre Kirche. Ein Erbe, das die Italiener ihnen zu treuen Händen überlassen hatten. Und immerhin: Es war eine Kirche, ein Haus Gottes. Waren sie doch selbst tiefgläubige Menschen.

1958 gründeten die Bewohner der Orkneys ein Komitee zur Erhaltung der Italian Chapel und restaurierten sie so gut es ging. Doch an die Werke Chiocchettis trauten sie sich nicht heran. Und so kehrte Domenico Chiocchetti, der ehemalige Kriegsgefangene des Camp 60 noch einmal zurück nach Lamb Holm, um seine Bilder aufzufrischen. Am Ende verließ er die Orkneys in tiefer Verbundenheit mit deren Einwohnern. Zum Abschied schreib er:

„The chapel is yours – for you to love and preserve.“
„Die Kirche gehört Euch – damit Ihr sie liebt und erhaltet“.

Domenico wusste, die Orkadier würden sich daran halten. Und das tun sie.

Wissen: Die Italian Chapel heute

Lüftl-Malerei an der Decke

Die Italian Chapel verbindet nicht nur die Italiener mit den Orkadiern, sondern auch verschiedene Glaubensgemeinschaften. Auf Orkney kümmern sich drei Konfessionen gemeinsam um den Erhalt dieses Schmuckstücks. Jeden ersten Sonntag im Monat findet dort auch ein Gottesdienst statt.

Das Gotteshaus auf Orkney ist übrigens nicht das einzige seiner Art gewesen. Auch in anderen Lagern in Großbritannien haben italienische Gefangene Kirchen errichtet. Die meisten wurden aber mit den Lagern zerstört. Eine Ausnahme ist die Henllan Chapel in Wales.

Das Kreuz links neben der Kirche wurde von Moena, der Heimat Chiocchettis, gestiftet. Seit dem Krieg haben die ehemaligen Campinsassen die Kirche mehrmals besucht. Zuletzt 1995.

Domencio Chiocchetti starb 1999 im Alter von 89 Jahren.

Das Madonnenbild, das Domenico Chiocchetti als Vorlage diente, stammt vom Künstler Nicolò Barabino und ist in der Kathedrale zu Genua zu sehen.

Tipp: Das Buch zur Geschichte

Das Entstehen der kleinen Kirche auf Orkney hat der Autor Philip Paris in seinem Buch „Italian Chapel“ als historische Novelle beschrieben.

Sehr spannend und bewegend zu lesen.

Anfahrt:

Mit Navigationsgerät: „KW17 2SF“ eingeben, das bringt einen bis in die Nähe. Von hier aus muss man eventuell noch eine Churchill Barrier überqueren und dann dem Hinweisschild folgen.

Ohne Navi: Von Kirkwall aus nimmt man die Straße A961 nach St Mary’s. Nach dem Ortsschild „St Mary’s“ beschreibt die Straße erst einen Knick nach links, dann biegt sie rechts ab auf eine der Churchill Barriers. Auf der anderen Seite zweigt dann direkt links der Weg zum Parkplatz bei der Italian Chapel ab.

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