Idyllisch am River Clyde gelegen, bot New Lanark den Arbeitern der Weberei eine Wohnstätte, die Maßstäbe der Menschlichkeit setzte. Heute ist es ein UNESCO-Welterbe. Was machte es so besonders?
Ende des 18. Jahrhunderts. Die Industrialisierung nimmt Fahrt auf, die Highland Clearances treibt die Landbevölkerung in die Städte oder gar auf neue Kontinente. Die Situation der neuen Arbeiterschicht ist schlimm. Sie leben meist in kleinen Wohnungen in Glasgow oder Edinburgh – dreckig, dunkel, ausgebeutet. Doch hier sollte sich das ändern. Denn hier wollten Visionäre eine bessere Welt schaffen für die Arbeitenden mit ihren Familien. Hier in den Mühlen von New Lanark.
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Besucher heute verspüren diese positive Idee vielleicht nicht. New Lanark besteht aus großen Wohnhäusern und ebenso großen Fabrikgebäuden. Immerhin umschlossen von Wald und mit einem Blick auf die Wasserfälle des River Clyde. Doch gibt es kaum Menschen in dieser Siedlung. Sie wirkt eher gespenstisch und bedrohlich. Warum also sollte dieser Ort für eine bessere Welt stehen?
Im Jahr 1785 sah die Realität eben noch anders aus: Kinderarbeit war normal. Für Bildung keine Zeit – und kein Geld. Die Arbeit in den Fabriken war hart und der Feierabend in den Wohnungen der Citys dreckig und stinkend. Als David Dale und Richard Arkwright unterhalb der Royal Burgh von Lanark neue Baumwoll-Webereien gründeten, hatten sie eine revolutionäre Idee im Sinn: freie Bildung für die Kinder!
In der Tat war das großzügig für damalige Verhältnisse. Allerdings mussten die Kinder dennoch elf Stunden pro Tag malochen, ehe sie dann zwei Stunden lang Lesen, Schreiben und Rechnen lernen durften. Doch mit Dale und Arkwright begannen die Verbesserungen erst.
Dales Schwiegersohn Robert Owen ging noch weiter. Er setzte die Arbeitszeit für alle Arbeiter weiter herab, bis später sogar auf nur acht Stunden. Kinder unter zehn Jahren durften gar nicht mehr arbeiten. Es gab einen Doktor und statt drakonische Strafen zu verhängen, wurde die Arbeitsleistung der Angestellten über einen Silent Monitor gemessen. Einem Vierkantholz, das durch die jeweilige Farbseite zeigte, wie erfolgreich der Arbeiter war.
Die Straßen und Hallen, die uns heute so leer vorkommen, waren im 19. Jahrhundert voller Menschen. Rund 2500 lebten hier, 500 davon Kinder. Heutige Besucher können sich ein Bild von den Lebensverhältnissen machen. Einige Wohnungen sind Teil der Tour durch New Lanark. Was uns heute eng vorkommt, war damals für Arbeiter nahezu Luxus. Allerdings ging es streng zu. Denn die Wohnungen wurden regelmäßig inspiziert auf Sauberkeit oder Ungeziefer. Die sauberste Wohnung bekam eine Zimmerpflanze in das Fenster gestellt – als Zeichen und Ansporn für alle anderen.
Die Webereien warfen guten Gewinn ab und die Arbeiter konnten im lokalen Laden den Lohn gleich wieder gegen tägliche Güter eintauschen. So wurde New Lanark ein Wallfahrtsort für viele europäische Industrielle, die ebenfalls Arbeitsbedingungen reformieren wollten. Diese Signalwirkung mag sicher ein Grund dafür sein, warum die UNESCO New Lanark 2001 zum Weltkulturerbe erhob.
Irgendwann aber holte die Zeit die Mühle ein. Robert Owen, der sich in vielen weiteren Projekten für Arbeiterrechte einsetzte, starb 1858 ohne Vermögen in London. Die Mühlen von New Lanark sollten sich noch bis 1968 drehen, doch dann war auch für sie Schluss.
Und heute? Heute zeigen einem Geister, wessen Geist einst New Lanark beseelte. Denn Besucher erfahren einen Teil der Rundtour in einer Art Geisterbahn. Sie fahren darin durch die Gänge, angeführt durch den Geist des Kindes Annie McLeod. Sie zeigt einen Ausschnitt aus der Lebenswirklichkeit der Arbeiter-Familien in New Lanark.
In New Lanark können Besucher gut und gerne einen ganzen Tag verbringen. Sie spazieren zwischen alten und schweren Maschinen, erkunden die Wohnungen von Arbeitern und Verwaltern und bestaunen deren Tapeten und Alltagsgegenstände. Sie setzen sich auf die Bänke des alten Klassenzimmers oder flanieren mit einem Eis aus hiesiger Produktion zwischen den großen alten Häusern bis hinunter zum River Clyde und seinen Wasserfällen.
Die Wasserfälle des Clyde sind auch der Blick, der mit New Lanark am meisten verbunden wird.
Hier startet auch der Weg durch das Falls of Clyde Woodland Reserve. Je nach Lust lässt sich hier ein Rundweg von 10 Kilometern erwandern.
New Lanark ist ein besonderer Ort. Ein Ort, der ein besseres Leben verheißt, der Hoffnung zeigt, aber auch harte Realität einer vergangenen Zeit. New Lanark atmet Geschichte mitten in einer wunderbaren Natur. Und es ist ein Ort, der Schottlands Geschichte prägte.
Wissen: New Lanarks Rettung nach der Schließung
1968 wurde die Produktion in der letzten Mühle eingestellt. Doch der Verfall vo New Lanark hatte schon viel früher eingesetzt. Immer weniger Wohnungen waren bewohnt, eine Mühle abgebrannt, die Bevölkerung längst weggezogen.
Um 1970 sollte New Lanark abgerissen werden. Doch es bildete sich eine Gemeinschaft, die das verhindern wollte: der New Lanark Consveration Trust. Seit bald 50 Jahren restaurieren seine Mitglieder das Gelände. Erfolgreich. Heute gibt es hier eine Eisfabrik, eine Textilherstellung und sogar ein großes Hotel für Tagungen oder Touristen.
Immer noch sind nicht alle Gebäude wieder in einem stabilen Zustand. Die Kirche ist einsturzgefährdet und einige Wohnungen sind noch in beklagenswertem Zustand. Allerdings finden sich hier auch oft noch Schätze, wie originale Tapeten aus den vergangenen Jahrhunderten. Und noch wichtiger: Es leben hier wieder Menschen. 150 Einwohner nennen New Lanark heute ihr Heim.
Anfahrt
New Lanark liegt zirka eine Stunde Autofahrt entfernt von Glasgow und eineinviertel Stunden von Edinburgh.
Mit Navigationsgerät: Der Postcode „ML11 9TG“ bringt einen direkt dorthin.
Ohne Navi: Von Glasgow aus geht es auf die Autobahn M8 bis zur Ausfahrt „Lanark“. Hier auf die A73 und bis nach Lanark fahren. In Lanark dann rechts Richtung Clyde Valley Tourist Route halten. Im nächsten Kreisverkehr ist New Lanark dann auch schon ausgeschildert. Es kommt noch eine Spitzkehre und dann gehen Serpentinen hinab ins Tal zum Clyde. Parken direkt am Eingang zum Museum.
Danke für diesen tollen Bericht. Ich lebe in Mannheim, einer ausgeprägten Arbeiterstadt mit vielen historischen Arbeitersiedlungen. Die Industrialisierung mit späterem Aufstieg zur Großstadt (um 1900) begann in Mannheim im Jahr 1853 mit der Grundung der Spiegelfabrik Saint-Gobain und einem extra dafür errichteten Dorf, damals weit vor den Toren Mannheims gelegen. Beim Lesen von Stephans Bericht über New Lanark entdeckte ich Parallelen zu Verhältnissen in Mannheim und an anderen Orten der Industriellen Revolution, die ich besuchte. Sehr bereichernd.
Hallo Johannes,
ja, ich denke, da waren einige kluge Köpfe am Werk, die schon früh versucht haben, eine lebenswerte Arbeitsumgebung zu schaffen. Auch wenn das eben mit heute nicht mehr vergleichbar ist. Es gibt einige Entsprechungen in ganz Europa.
Danke für den Einblick in das Mannheimer Herz.
Viele Grüße
Stephan