Mitten im Atlantik, weit weg von Schottland, liegt das Archipel St Kilda. Dessen wilde Natur bewog die Bewohner der Insel einst zu einer traurigen Entscheidung.
Wie üblich bei wichtigen Entscheidungen des täglichen Lebens, trafen sich die Männer der Insel zum „Parlament“, der Dorfversammlung. So auch an diesem Tag im Jahre 1928. Die Probleme drängten: Nach dem ersten Weltkrieg gab es immer weniger junge Menschen auf St Kilda. Die Älteren würden sich bald nicht mehr alleine ernähren können. Überhaupt gab es nur noch 36 Menschen hier auf der Insel – zu wenig für eine vitale Gemeinde.
Mein Reiseführer Äußere Hebriden
Auf 304 Seiten beschreibe ich die Inseln Lewis, Harris, North und South Uist, Benbecula, Barra und Vatersay. Außerdem 7 Touren und 232 Fotos.
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Die Männer fassten einen schweren Entschluss: Die letzten Familien würden St Kilda verlassen. Für immer.
Der Katamaran „Orca III“ pflügt durch die Wellen, Gischt spritzt vom Bug und durchnässt die Passagiere auf Deck. Gut drei Stunden dauert die Fahrt von der Südspitze von Harris nach St Kilda, rund 64 Kilometer entfernt liegt die Inselgruppe im Atlantik westlich der Äußeren Hebriden. Hatten die Bewohner vor rund 75 Jahren die Insel verlassen wollen, zahlen wir heute viel Geld, um zum entlegenen Archipel von St Kilda zu kommen. Rund 150 Pfund pro Nase, der Ausflug dauert dafür einen ganzen Tag.
Mir ist ein wenig übel. „Hinwärts“, tröstet mich der Kapitän, „ist der Wellengang immer etwas schwieriger.“ In der warmen Kabine halte ich es jedenfalls nicht aus, die frische Luft hilft.
Der Exodus hatte begonnen, als die Soldaten kamen. Sie erzählten den jungen Menschen von den Annehmlichkeiten des schottischen Festlands, von pulsierenden Städten wie Glasgow und Edinburgh. Weckten Sehnsucht nach einem leichteren Leben. Und so gingen nun immer häufiger Männer zum Militär oder Frauen heirateten außerhalb der Gemeinde. Einige tödliche Unfälle taten ihr übriges. Als schließlich 1920 eine Großfamilie mit elf Mitgliedern geschlossen nach Lewis auswanderte, waren nur noch wenige übrig, die sich dem strengen Regiment aus Kirche und Arbeit unterwerfen wollten. 36 Personen, von denen nur 20 im Alter zwischen 21 und 65 Jahren lagen.
Als erstes sehe ich Boreray, eine der kleineren Inseln, die von einer alleinstehenden Felsnadel flankiert wird. Dann dreht der Bug langsam zur Bucht der Hauptinsel Hirta. Hirta oder Hiort (Gälisch, gesprochen in etwa „Hirscht“) war die Insel, auf der sich das einstige Dorf St Kildas befand. Beim Einfahren in die Bucht erscheint der Bogen der einstigen Blackhouses hinter den Anlagen des Militärs. Sie alle blickten mit der Tür zur Bucht. „Main Street“ nannten die Bewohner den Weg vor den Häusern selbstbewusst, also: „Hauptstraße“. Dahinter – verstreut über den ganzen Hang des Berges – die Cleats, eine Art steinerne Vorratskammer.
Anlegen kann der Katamaran in der Bucht nicht. Der Wellengang kann tückisch sein und so werden wir Passagiere mit einem Beiboot zum Pier gebracht.
St Kilda ist sicherlich eine der entlegensten Inseln. Doch alleine ist man hier nicht. Kaum setzen wir Fuß auf die Insel, werden wir zusammen mit anderen Gruppen vom Ranger empfangen, der uns die Regeln an Land erläutert. Das Archipel befindet sich heute in der Obhut des National Trust for Scotland. Und der kümmert sich um den Erhalt, denn St Kilda ist zweifaches Welterbe der UNESCO und somit ein Schatz für die gesamte Menschheit. Während ich das alles erfahre, wummert im Hintergrund laut das Dieselaggregat in einem der hässlichen Blechbauten des Militärs. Einsamkeit klingt anders.
Seit 2000 Jahren, also bereits seit der Bronzezeit, lebten auf St Kilda Menschen. Doch über all die Jahrhunderte war es nie leicht, den Inseln etwas zu Essen abzutrotzen. Das Leben drehte sich darum hauptsächlich um das Anlegen von Vorräten für den Winter. Wolle für Kleidung, Torf für den Herd und Essen. Das Hauptnahrungsmittel: Basstölpel (Gannets), Eissturmvögel (Fulmars) und Papageientaucher (Puffins). Sie mussten jeweils in den Klippen gejagt, getötet, dann gepökelt und in den Cleats eingelagert werden. Das Fischen spielte nur eine untergeordnete Rolle, der Wellengang in der Bucht war oft zu stark. Es gab auch zaghaften Ackerbau, der hauptsächlich Kartoffeln hervorbrachte. Gelegentlich holte man sich ein Schaf von der Nachbarsinsel Soay.
Das Soay-Schaf gibt es nur auf St Kilda, darum wird es heute geschützt. Beim Herumspazieren auf der Insel begegnen wir den Tieren ständig – und auch ihrem Kot. Ursprünglich war diese Rasse nur auf der westlichen Insel Soay beheimatet – daher der Name. Erst nach der Evakuierung der Einwohner wurde eine Herde nach Hirta gebracht und vermehrt sich hier gut.
Ich möchte natürlich in den wenigen Stunden auf Hirta möglichst viel von der Insel sehen. An Autos gibt es hier nur einen Jeep für die einzige befestigte Straße hoch zum Sendemast des Militärs. Wer etwas sehen will, muss also laufen und das tun wir. Rund um die Bucht von Hirta erheben sich direkt die Berge. Der Ranger empfiehlt uns, durch die Senke zwischen zwei Gipfel nach Norden zu marschieren, dann den Halbkreis zu schlagen nach Süden und dort auf der Straße vom Sendemast her abzusteigen. Das tun wir. Vorbei an den Cleats und alten Steinmauern gewinnen wir rasch an Höhe. Immer weiter steigen wir auf, bis es plötzlich vor uns dramatisch abfällt. Wir sind an der Nordklippe angelangt, die Berge Hirtas enden hier an einem Abgrund. Die Klippen hier sind die höchsten Großbritanniens. Sie geben tausenden Seevögeln einen Nistplatz. Mich machen sie schwindlig.
Vielleicht hätten die Bewohner St Kildas ein Chance gehabt hier zu überleben, wenn eine bessere Kommunikation mit dem Festland möglich gewesen wäre. Doch da sich die Insel in Privatbesitz eins Landlords befand, sah die staatliche Post es nicht ein, dort eine Niederlassung zu eröffnen. Und so mussten sich die Bewohner mit Tricks helfen. Zum Beispiel mit den berühmten St Kilda Postschiffen, die im Prinzip nichts weiter waren als eine bessere Flaschenpost. Ein Schwimmkörper, ein Behälter und darin ein Brief wurden ins Wasser geworfen und die Strömung trieb das „Postschiff“ dann zum Festland – mit etwas Glück. Immerhin zwei Drittel davon sollen ihr Ziel erreicht haben – manche wurden auf den Orkneys im Norden Schottlands gefunden. Seit 1906 gab es zwar ein Post Office, doch nur Passagierschiffe im Sommer nahmen die Briefe mit.
Besser wurde es erst, als das Militär hier eine Funkstation errichtete. Doch auch die half nicht schnell genug, wenn ein Bewohner der Insel erkrankte. Und so gab es tragische Fälle, in denen Bewohner an Blinddarmdurchbruch oder ähnlichen Erkrankungen starben. Auch das konnten sich die Männer des Parlaments nicht mehr schönreden: St Kilda war einsam und isoliert.
Meine Frau und ich erklimmen den Conachair, der sich immerhin auf knapp 400 Höhenmeter steigert. Und dabei werden wir mit der Weltkriegsvergangenheit konfrontiert: Ein verrostender Propeller markiert die Absturzstelle eines Fliegers aus dem zweiten Weltkrieg. Umkämpft war die Insel jedoch nur im ersten Weltkrieg. Damals tauchte ein deutsches U-Boot in der Bucht auf. Man warnte die Bevölkerung freundlicherweise, ehe man die Funkstation unter Beschuss nahm. Kein Mensch und kein Haus des Dorfes kam zuschaden dabei.
Je weiter wir aufsteigen, desto weniger sehen wir. Wolken fangen sich am Berg, es wird feucht. Um den richtigen Weg zu nehmen, orientieren wir uns am Geräusch des Funkmasts auf dem Mullach Mòr, dem „großen Gipfel“ südlich. Als wir langsam wieder aus den Wolken heraus absteigen, eröffnet sich ein grandioser Blick auf die Bucht und das Dorf.
So isoliert man auf St Kilda auch gewesen sein mochte, das Dorf hatte die wichtigsten Einrichtungen für eine vitale Gemeinde. Da war natürlich zu erst die Kirche, in der sich die Bewohner mindestens jeden Sonntag versammelten und ihren Gott lobpreisten – auf Gälisch und ohne Musikinstrumente. Die waren ebenso wie Spielkarten auf der Insel verpönt. Teufelszeug. Außerdem gab es eine Schule, die sich um die Bildung der Jüngsten kümmerte. In den Wintermonaten brachte hier jeder Schüler ein Stück Torf mit, so kam immer genug zusammen, um während des Unterrichts zu heizen.
Dennoch kam man auch hier bald an das Ende der Möglichkeit. Viele Schüler, die sich fortbilden wollten, mussten die Insel verlassen. Auch das ein Grund, warum bald nur wenige junge Männer übrig bleiben.
Wir betreten das alte Dorf. Ausgehöhlte Häuser, die damals schon karg waren. Normalerweise gab es zwei Schlafzimmer und eine Küche, in der ein Herd stets brannte. Im Winter konnte noch ein weiteres Zimmer geheizt werden. In den Kaminen der Häuser liegen heute runde Steine mit den Namen der früheren Bewohner darauf. „Nr. 14, Flora Gillies“ steht da zum Beispiel. Die Steine haben die Bewohner selbst hinterlassen, bei einem Besuch lange nach der Evakuierung.
Weiter entlang der Main Street aber wandelt sich das Bild. Die Häuser haben Dächer, Türe, Glasfenster. Aus einigen erklingt Musik. Sie wurden wiederhergestellt, für Archäologen und Mitarbeiter des Trusts, die die Insel erforschen. Und das ehemalige Schulhaus ist heute ein Andenkenladen und das Büro des Rangers. Unsere Tour auf Hirta endet hier. Wir werden wieder auf die Orca III gebracht. Schließlich wollen wir noch die anderen Inseln sehen.
Nahrung holten sich die Bewohner St Kildas nicht nur von Hirta. Bei ruhigem Wetter und der passenden Jahreszeit gingen einige Männer auf Expedition zu den Felsnadeln Stac an Armin und Stac Lee bei der Insel Boreray. Die waren bevölkert von nahezu unendlich vielen Vögeln. In den steilen Felsklippen brachten sie Tage zu und fingen mit Schlingen an Stöcken hunderte Tiere. Die Nacht verbrachten sie in kleinen Steinhütten im Fels, ehe sie schließlich erst die Tiere zum Boot hinunterwarfen, dann selbst hinabkletterten und nach Hirta zurückehrten.
Auch auf Boreray selbst gab es Arbeit. Die Schafe, die auf der Insel lebten, wurden geschoren um Wolle herzustellen. Doch Boreray – ebenso wie die Feslnadeln – bestand eigentlich nur aus steilen Felswänden, ein Anlanden war schwierig. Nur gestandene Männer konnten hier bestehen.
Die Orca III verlässt die Bucht von Hirta und nimmt Kurs auf den Stac Lee, der etwa sieben Kilometer nordöstlich von Hirta bei Boreray aus dem Meer ragt. Um die 172 Meter soll er hoch sein und damit eine der beiden größten Felsnadeln Großbritanniens. Die andere steht gleich ein Stück weiter, heißt Stac an Armin und schafft es auf imposante 196 Meter Höhe.
Boreray, Stac Lee und Stac an Armin sind ein Paradies für Vogelkundler. Auf den drei Inseln wurden 2004 insgesamt 60.000 Brutpaare von Basstölpeln geschätzt. Damit ist St Kilda die Inselgruppe mit den meisten Basstölpeln überhaupt. In den Gewässern um Boreray tummeln sich Papageientaucher, in den Klippen finden sich weitere Vogelarten.
Irgendwann merke ich, dass mein Mund offen steht. So eine Menge Vögel habe ich noch nie gesehen. Der Flugverkehr über meinem Kopf ist gigantisch – ich frage mich, warum es keine Kollisionen gibt.
Doch nach einer Stunde etwa hat unser Boot auch Boreray umrundet. Der Kapitän wirft die Maschinen an und macht sich auf die Heimreise. Ich verlasse diese wunderbare Inselwelt mit Wehmut. Wie wahrscheinlich ist es, dass ich hier noch einmal herkomme?
Das Parlament der Insel hatte den Entschluss gefasst, alle Bewohner St Kildas sollten auf eigenen Wunsch evakuiert werden. Man schrieb der Regierung und die leitete die erforderlichen Schritte in die Wege. Am 29. August 1930 schließlich gingen die Familien Hirtas an Bord des Schiffes Harebell. Die meisten waren froh von dieser kargen Insel wegzukommen und im Westen Schottlands ein neues Leben zu beginnen, das sicherer und komfortabler war.
Doch wie schrieb der ehemalige St Kilda-Bewohner Donald John Gillies: „A portion of the earth […] is not abandoned by all its inhabitants on one day without a deep stirring of the heart […]“ – „Ein Stück Land wird nicht von all seinen Einwohner an einem Tag verlassen ohne eine tiefe Rührung des Herzens“.
Wissen: Geschichte und ein falscher Mythos
St Kilda ist eigentlich ein erloschener Vulkan. Man kann das gut auf einem Sonar erkennen, denn dort zeigt sich, dass der Meeresgrund sich auch um die sichtbaren Inseln erhebt bis auf 40 Meter unter dem Meeresspiegel.
Bewohnt wurden die Inseln seit rund 4.000 Jahren bereits im Neolithikum. Archäologen fanden Grabstätten aus dieser Zeit und auch aus der Bronzezeit. Schmuckfunde und Namensgebungen weisen auf Wikinger-Besatzung der Insel hin. St Kilda gehörte den MacLeods von Dunvegan auf der Isle of Skye. Im 17. Jahrhundert mieteten rund 180 Menschen die Insel von den Landbesitzern und seitdem gab es dort ein Dorf, das aber noch einige Male die Form veränderte.
Die UNESCO hat St Kilda für sein Natur- und Kulturerbe ausgezeichnet.
Das St Kilda Parlament, bei dem sich die Männer der Insel zum Gespräch getroffen haben sollen, fand übrigens nicht wie auf Wikipedia behauptet täglich statt. Mit dieser Legende räumt der ehemalige Bewohner Donald John Gillies in seinen Memoiren auf. Es trat meist zusammen, um die Verteilungen der Abschnitte auf den Klippen unter den Familien zu regeln, auf denen diese jeweils Eissturmvögel erlegen durften. Weitere Themen waren die Versorgung von Witwen und Weisen, das gemeinsame Errichten von Lager-Gebäuden und das Verwalten gemeinsamer Vorräte wie Mehl vom Festland. Während festgelegten Arbeitsperioden jedoch gab es kein Parlament. Gillies dazu lakonisch: „Viele Autoren beziehen sich auf das St Kilda Parlament. In meiner Erinnerung hat keiner dieser Autoren jemals am Parlament teilgenommen […]“ („The Truth about St Kilda – An Islander’s Memoire“, Donald John Gillies S. 19).
Tipps: Hütet Euch vor den Raubmöwen
Wenn man auf Hirta die klassische Wanderung den Berg hoch unternimmt, kann es zu bestimmten Jahreszeiten passieren, dass man den Nestern der Raubmöwen zu nahe kommt. Dann beginnen sie einen zu attakieren, was durchaus gefährlich sein kann. Sie kommen im Tiefflug und versuchen einen zu picken.
Allerdings attackieren die Vögel immer den höchsten Punkt. Wenn man also einen Wanderstock oder ein Stativ dabei hat, kann man das einfach nach oben senkrecht über den Kopf halten und dabei weitergehen. Die Möwen greifen dann nur den Stock an.
Persönliche Anmerkung: Ein Traumtag auf St Kilda
Dort hin zu fahren, an das Ende Europas, war schon lange ein Traum von mir, den ich mir zusammen mit meiner Frau nach unserer Hochzeit in den Highlands erfüllt hatte. Wir waren beide tief beeindruckt von der schieren Masse an Vögeln, den Felsnadeln und Klippen und den Geschichte der Inseln.
Anfahrt:
Natürlich ist St Kilda nur über das Meer zu erreichen. Anbieter für Fahrten sind Kildacruises von Harris aus und mit Go to St Kilda von Uig auf Skye aus.